21. Jahrestag. Mit ausgesuchten Orgelwerken eröffnet Kantor Manfred Grob den Stiftungsjahrestag 2024 und begleitet ihn bis zum Schlussakkord mit anspruchsvollen Werken aus dem 19. Jahrhundert bis zu zeitgenössischen Kompositionen. Pfarrer Ingo Maxeiner begrüßt die Gäste des Abends und ebenso die Mitwirkenden, deren Engagement für Stiftung, Kirche und Stadtgesellschaft er mit dankenden Worten würdigt.
Die Grußworte der Stadt Dortmund beginnt Herr Jörg Stüdemann – Kulturdezernent, Stadtkämmerer und seit vielen Jahren Vorstandmitglied der Stiftung – sehr persönlich: Der Blick auf den Marienaltar verbindet sich bereits mit seiner Kindheit, als Weihnachtskarte ging das Motiv damals an alle Verwandten. Der früher diesen Kulturgütern zugemessene hohe Stellenwert ist heute leider im Verschwinden begriffen. Auch deswegen ist das intensive Engagement von Frau Prof. Welzel und das von ihr initiierte Kirchenmanifest von unschätzbarer Bedeutung. Ein Manifest, das die jahrhundertealten Kirchen als Orte von herausragender Qualität, Bedeutung und Orientierung heraushebt und bei manch drohendem Abriss zum Erhalt – auch in profaner Nutzung – aufruft.
Von den vier mittelalterlichen Kirchen in der Dortmunder City ist keine so schlicht, so in lutherischer Lesung des zweiten Gebots wie die Kirche der sauerländischen Heimatgemeinde von Pfarrer Olaf Kaiser, der Grußworte des Evangelischen Kirchenkreises überbringt. Die reiche Ausstattung dieser vier Kirchen will nicht von Gott wegführen, sondern zu dem Geheimnis, das wir Gott nennen, und zu inneren Glaubenswelten hinführen. In diesen Kirchen wurde und wird gepredigt, gebetet, gesungen und gehofft: All dies hat auch die Marienkirche auf geheimnisvolle Art aufgenommen.
In seinem Festvortrag „Fremde Kunst – Christliche Objekte in einer modernen Welt“ betont Dr. Christian Walda, Kurator und kommissarischer Direktor des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, das Verbindende von Museum und Kirche: Das Bemühen um das Kulturgut. Seit Jahren leistet die Stiftung Restaurierungsmaßnahmen an den Kulturschätzen sowie technische Gebäudeertüchtigung und damit eine Aufgabe, die auch ein Museum neben dem Erforschen, Ausstellen und Vermitteln des Kulturguts leisten müsse: Das Bewahren – nicht nur für die Mariengemeinde, sondern für Alle.
Kirchen sind die authentischen Orte, für welche die christlichen Kunstwerke im Mittelalter geschaffen wurden. Hier können sie ihre biblische Erzählung und sinnliche Schönheit entfalten, hier ermöglichen sie geistliche Erbauung und spirituelle Erfahrung. Dafür müsse man nicht einmal gläubig sein, sondern sensibel für die nicht-sichtbaren Dimensionen des Lebens, von denen es viele gibt.
Beides ist im Museum nicht so selbstverständlich erfahrbar, denn Museen stehen für die Entkoppelung aus diesem originalen Kontext. Die im Museum präsentierten Gemälde, Skulpturen und kunsthandwerklichen Objekte wurden explizit nicht für diesen Ort geschaffen, sondern sind hier über Auswahl, Positionierung, Gruppierung und Beleuchtung inszeniert und über Jahrhunderte hinweg in eine neue Nähe gebracht.
Dennoch entsteht kein Chaos, sondern eine Chance, zwischen Stilen, Zeiten, Materialien, Techniken und Themen zu vergleichen. Zwischen einem Altarretabel des Conrad von Soest, einem Landschaftsbild von Caspar David Friedrich und einem zeitgenössischen Werk können sich Gemeinsamkeiten spiritueller Sinnsuche ergeben, die in einer chronologischen Hängung oder in einer Kirche verborgen bleiben. Eine museale Präsentation kann immer neue Sichtweisen und Atmosphären erzeugen, welche den Zugang und die Rezeption durch den Betrachtenden beeinflussen.
Diese Zugänglichkeit ist nicht nur eine Frage von Öffnungszeiten oder Eintrittsgeld., sondern auch auf emotionaler und intellektueller Ebene wichtig: Museen bringen religiöse Kunstwerke unabhängig von religiösen Überzeugungen nahe. Sie schaffen einen neutralen Raum, in dem Menschen aus verschiedenen kulturellen und religiösen Kontexten Kunst ohne liturgischen Bezug erleben können. Mancher Besuchende erwartet gar keine religiöse Kunst, sieht sich aber plötzlich mit ihr konfrontiert. Dr. Walda „dekonstruiert“ in seinen Führungen sehr häufig den religiösen Kontext, um den anthropologischen Kern ihrer zeitgebundenen Ästhetik und die humanistische Dimension von Kunst und Glauben näherzubringen. Museen sind weltanschaulich strikt neutral, aber vertreten natürlich Werte und Haltung.
Die Gründe für den Einzug von Kirchenkunst in Museen sind vielfältig: Zum einen die Säkularisation in den Jahren nach 1803, d.h. die Enteignung der Kirchen und Klöster unter Napoleon. Dadurch wanderten viele Kirchenschätze, die sonst verlorengegangen wären, in Privatsammlungen und bildeten später den Grundstock manchen Museums, wie das Wallraf-Richartz-Museum in Köln mit seiner hervorragenden Mittelalter-Sammlung. Zum anderen die bis heute anhaltende Säkularisierung, d. h. die Zeit des schleichenden Bedeutungsverlust der kirchlichen Bindung in der Bevölkerung.
Diese Entwicklungen haben über die Jahrhunderte auch ein Thema befördert, das erst in dieser zeitlichen Distanz so deutlich hervortreten konnte: Das Fremde in der Kunst. So kann ein mittelalterliches Werk, dessen dargestellte Personen und christliche Heilslehre heute nicht mehr erkannt werden, mehr Fremdheit auslösen als beispielsweise ein impressionistisches Gemälde. Ein beispielhaftes Werk für eine mögliche Fremdheit ist das Gemälde „Maria lactans“ aus der Nachfolge des Conrad von Soest, heute im Besitz des Museums für Kunst und Kulturgeschichte und vor gut einem Jahr mit Mitteln der Stiftung einer kleinen Restaurierung unterzogen. In diesem Gemälde säugt Maria das Kind an ihrer den Blicken fast verborgenen Brust. Das Motiv lässt sich bis zur altägyptischen Göttin Isis und ihrem Sohn Horus zurückverfolgen. Während es bei Isis für die Übertragung der göttlichen Kraft steht, so bei „Maria lactans“ für die Übertragung von Weisheit und Beredsamkeit.
Die „Maria lactans“ ist – wie auch die Geburtsszene des Marienaltars des Conrad von Soest – in einer zarten Innigkeit der Gesten und ganz im „Weichen Stil“ des frühen 15. Jahrhunderts gemalt. Solch gefühlvolle Darstellungen boten den Menschen einen emotionalen Anker, ließen Gott nicht als Strafenden, sondern als verzeihenden und liebenden Gott aufscheinen, der sich in der Gestalt Jesu demütigt bis hin zu dessen qualvollem Kreuzestod. Eine größere Diskrepanz zwischen Empfindsamkeit und Grausamkeit ist kaum vorstellbar.
Hier entwickelten sich – wie auch im Motiv der Pietà, der trauernden Gottesmutter mit dem Leichnam Christi auf ihrem Schoß – Formen des Mitgefühls und grundlegende Aspekte des Humanismus: Der Mensch als Maßstab zur Bewertung menschlicher Handlungen – dies spiegelt sich zunehmend in der Kunst.
Zum einen appellieren solche Kunstwerke an das menschliche Mitgefühl, berühren unsere Innenwelten und eröffnen eine neue, subjektive Rezeption von Kunst. Zum anderen erscheint uns in unserer menschlichen Wahrnehmung eben alles, was wir nicht kennen, als fremd. Doch je länger wir uns – ob in Kirche oder Museum – mit diesem Fremden beschäftigen, desto mehr wird es zum Bekannten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden in der Philosophie diese Erkenntnisse zu Welterfahrung und Selbst-Bewusstsein grundlegend formuliert: Letztlich ist „das Fremde“ die notwenige Voraussetzung zur Selbsterkenntnis.
Die Menschen anzuregen, über die Ausstellungsobjekte auch die Auseinandersetzung mit sich selbst zu suchen, ist wichtige Aufgabe von Museen. Allerdings – wie in den Kirchen – ohne diese Exponate im Sinne eines „Be-Greifens“ anfassen zu dürfen. Die Objekte in Museen und Kirchen sind unverfügbar und darin liegt ein Widerstand – eben das Andere / Fremde, mit dem wir umgehen lernen müssen. Quasi eintauchen kann man in solch fremde Welten in visuellen Kunst-Räumen wie „Phoenix des Lumières“. Doch ästhetische Erfahrung ist immer eine Mischung von Erlebnis und Erkenntnis. Das Erlebnis neigt zum bestätigenden Genuss, die Erkenntnis zur distanzierten Betrachtung.
Zur menschlichen Grundversorgung gehören Museen – im Gegensatz zu Krankenhäusern – nicht, doch sie bieten einen Ort, sich auf Dinge, Perspektiven, Erzählungen ohne eigene Gefährdung einzulassen. Das als bedrohlich angesehene Fremde kann, so Dr. Christian Walda, „versuchsweise kennengelernt und damit als Fremdes angeeignet werden. Es finden sich Erlebnis-Angebote, die Erkenntnisse erzeugen und das soziale Miteinander auf solidere Füße stellen. Dafür müssen gerade die fremd erscheinenden Objekte erhalten werden“ – sowohl in den Museen als auch in den Kirchen.
An einem Stiftungsjahrestag ist auch Rechenschaft abzulegen über die satzungsgemäße Verwendung der erhaltenen Zuwendungen. Laut Bericht des Stiftungsvorstands-Mitglieds Dr. Thorsten Ziebach ging die Rechnung für die Sanierung der Schreiter-Fenster in Höhe von 33.000 € erst Ende 2022 ein und wurde Anfang 2023 beglichen. Im Laufe des Jahres 2023 erzielte die Stiftung dann durch 168 Spenden insgesamt 33.063,46 € an Zuwendungen. Dies ist ein sehr erfreuliches, etwas über dem durchschnittlichen jährlichen Spendenaufkommen liegendes Ergebnis. Der Gesamtbetrag, der seit Stiftungsgründung 2003 bis 2023 für den Erhalt des Kulturgutes und die Förderung der Kirchenmusik verwendet wurde, beträgt damit 730.749,38 €. Demgegenüber steht ein angesparter Betrag von 119.792,34 €, der für künftige Projekte eingesetzt wird.
Frau Worms-Nigmann bedankt sich bei allen Mitwirkenden und den Stiftungsmitarbeitenden. In ihrer stets sehr zugewandten Art verabschiedete sie aus dem bisherigen Stiftungsvorstand Herrn Jörg Stüdemann und Frau Renate Fischer, die beide über sehr viele Jahre wichtige Arbeit im und für den Stiftungsvorstand geleistet haben. Sie begrüßt die neuen Vorstandsmitglieder Frau Annelie Haaß und Frau Ute Klemann und wünscht diesen sowie den weiterhin in der Stiftung tätigen Mitarbeitenden – Dr. Bernt Langeneke, Ingo Maxeiner, Monika Radtke, Silvia Schmidt-Bauer, Dr. Thorsten Ziebach – weiterhin eine glückliche Hand und Gottes Segen bei allen Stiftungsaufgaben.
Nach dem abschließenden, machtvollen Orgelstück klang der Stiftungsabend bei Wein, Wasser und angeregten Gesprächen aus.
Silvia Schmidt-Bauer, Schriftführerin der Stiftung Kulturgut und Kirchenmusik der Ev. St. Mariengemeinde.