20 Jahre Stiftung Kulturgut und Kirchenmusik

Menschen und Mitwirkung

Wie schnell die Zeit vergeht! Im Jahr 2003 wurde die Stiftung auf Initiative von Pfarrer Ingo Maxeiner und Dr. Inge Janßen gegründet. An ihrer Seite engagierten sich in den frühen Jahren der Stiftung u.a. Dr. Peter Wittershagen und Stefan Dreist. In den Folgejahren und angesichts der anhaltenden Herausforderungen zum Erhalt der Architektur und des Kulturgutes der Ev. St. Mariengemeinde wirkten und wirken viele weitere Menschen in der Stiftung ehrenamtlich und tatkräftig mit, u. a. Renate und Dietrich Fischer, Dr. Bernt Langeneke, Monika Radtke, Friedrich Schophaus und Dr. Thorsten Ziebach. In all den Jahren unter der kompetenten, konzentrierten und zielorientierten Leitung des stets wiedergewählten Vorsitzenden Ingo Maxeiner.

Im November 2023 nun feierte die Stiftung ihren 20. Jahrestag. Der Vorsitzende begrüßte freudig die Gästeschar zu diesem feierlichen Abend. Die Grußworte der Superintendentin Heike Proske gingen auf die alljährliche zeitliche Nähe des Stiftungsjahrestages zum vielschichtigen und schicksalhaften 9. November in Deutschland ein. Sie spannte einen solch interessanten Bogen zwischen Momenten des Erinnerns und Erschreckens und einer sich zu oft wiederholenden Geschichte – dass Sie die Grußworte von Frau Proske in einem eigenen Beitrag in dem Gemeindebrief „Oase“ der Ev. St. Mariengemeinde nachlesen können.


Zu diesem wichtigen Impuls von Frau Proske sei hier eine traurig-wahre Erkenntnis des spanischen Philosophen George Santayana (1863 – 1952) ergänzend zitiert: „Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“.


Geschichte und Gegenwart

Die Ev. St. Marienkirche ist die älteste erhaltene Innenstadtkirche, hat eine romanisch-gotische  Baugeschichte, berühmte Altarwerke und liturgische Ausstattungsobjekte vom Mittelalter über den Barock bis zur zeitgenössischen Kunst sowie eine klangvolle Schwalbennestorgel. Ein großes Erbe und eine anhaltende Verantwortung. Um dieses Erbe für künftige Generationen zu bewahren, wurde vor 20 Jahren die Stiftung der Ev. St. Mariengemeinde gegründet. Mit Martin Luther und der Reformation gewann die Kirchenmusik an Bedeutung und so setzt sich die Stiftung auch für deren Förderung ein.

In den Bereichen Kulturgut und Kirchenmusik konnten seit Bestehen der Stiftung eine Vielzahl an Sanierungsprojekten realisiert werden. Auf die meisten, teils sehr aufwändige Maßnahmen konnte die Stiftung zielgerichtet ansparen, manche fielen uns – wie die Sanierung des Südturms – sprichwörtlich vor die Füße.


Spendenprojekte 2003 – 2023

Die Stiftung konnte gemäß ihrer Satzung bei folgenden Kunstschätzen, Architekturelementen und technischer Ausstattung Erhaltungsmaßnahmen durchführen, die Kirchenausstattung teils ergänzen bzw. die Mariengemeinde durch Refinanzierung entlasten: Akustikanlage im Kirchenraum, Berswordt-Altar, Berswordt-Kelch, Dach des Kirchenmittelschiffs, Ertüchtigung der Schwalbennest-Orgel im Kirchenraum und des Flügels im Gemeindehaus, Heizungs-Technik im Kirchenraum, Kerzenständer von Sebastian Wien, Kirchenverglasung von Johannes Schreiter, Marienaltar des Conrad von Soest, Sakramentshaus, Skulptur der Goldenen Muttergottes und des Hl. Michael, Südturm der Kirche und Tontechnik im Gemeindehaus. Diese kurze Auflistung lässt nur erahnen, wie aufwändig und manchmal auch langwierig die Realisierung manch eines dieser Projekte war. Beeindruckend ist und bleibt die Gesamt-Spendensumme, aufgrund derer wir in den Jahren 2003 bis 2023 insgesamt rund 730.000 Euro projektbezogen investieren konnten. Für die hohe und wiederkehrende Spendenbereitschaft innerhalb unserer Ev. St. Mariengemeinde und von vielen weiteren Spendenden sagt der Stiftungsvorstand herzlich DANKE.


Stiftung und Stadtgesellschaft

Das Engagement der Stiftung ist eng verbunden mit der jahrhundertealten Dortmunder Stadtgesellschaft: Mehr als einmal in ihrer wechselvollen Geschichte konnte die St. Marienkirche nur aufgrund bürgerschaftlichen Engagements gerettet, instandgesetzt und erhalten werden. Das gemeinsame Ziel von Stadt und Stiftung, in der Gegenwart und für die Zukunft vorausschauend zu handeln, eint das Engagement bis heute. Dies fand und findet seinen Ausdruck sowohl in den alljährlichen, wertschätzenden und inspirierenden Grußworten der Stadt bei den Stiftungsjahrestagen als auch in deren verlässlicher Unterstützung der Stiftungsarbeit: So engagierte sich die damalige erste Bürgermeisterin Marianne Wendzinski als Mitglied im Stiftungsvorstand und seit vielen Jahren ist uns Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann als Vorstandsmitglied verbunden. Wir danken herzlich für 20 Jahre konstruktive Zusammenarbeit.

Feier und Vortrag

20 Jahre Stiftungstätigkeit sind ein besonderes Jubiläum. Dennoch stand im Zentrum dieses feierlichen Abends keine Rückschau – denn all die Jahre wurden die Sanierungsprojekte gut in die Mariengemeinde und die Stadtgesellschaft hinein kommuniziert. Stattdessen fokussierte der Festvortrag von Prof. Dr. Barbara Welzel, TU Dortmund, die „Zukunftsperspektiven von Kirche und kulturellem Erbe“.

Ihr Blick reichte zunächst zurück in schwierige Zeiten für Dortmund und die Marienkirche: 1803 wurde das Hl. Römische Reich Deutscher Nation aufgelöst, Dortmund verlor seinen jahrhundertealten Status als Freie Reichs- und Hansestadt, die Einwohnerzahl war halbiert, der Marien-Kirchraum galt als dunkel, feucht und muffelig. 1833 gab es einen Abrissbeschluss für die Kirche, doch engagierte Presbyter wandten sich an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. und dessen obersten Baubeamten Karl Friedrich Schinkel. Sie erwirkten die Rücknahme des Beschlusses und die Ev. St. Marienkirche wurde in den folgenden Jahrzehnten wieder hergestellt. Der damals beginnende preußische/deutsche Denkmalschutz lässt sich an der St. Marienkirche gut aufzeigen.

Begutachtet im Rahmen eines Immobilienkonzepts wären die Altarwerke, das Chorgestühl, die Kirchenbänke nur als Inventar zu deklarieren – gleichsam  als würde man eine Bibliothek als ‘Stapel von Papieren‘ bezeichnen.  Doch die Steine, aus denen die Marienkirche erbaut wurde, sind ein Speicher der Geschichte … der  wiederum Geschichten erzählen kann.

Eine Geschichte erzählt von dem noch in waagrechten Geschossflächen gedachten Aufbau des romanischen Mittelschiffs, im nächsten Kapitel folgt das Aufsteigen der Dienste und Lisenen im später erbauten, gotischen Chorraum. Eine weitere Geschichte erzählen die Kirchenfenster: Von den frühen, kleinen, romanischen Lichtöffnungen, die vor allem im Mittelschiff ungleichmäßig in der Wand sitzen; in der gotischen Umbauphase dann die deutlich größer gestalteten Fenster und schließlich die heutige, von Johannes Schreiter um 1970 entworfene Kirchenverglasung, die sich  bewusst in die mittelalterliche Tradition stellt und diese zugleich in moderner Sprache fortführt.

Und so erzählt die Ev. St. Marienkirche ihre eigene, jahrhundertealte Biografie. Alle Kirchen seien – so Prof. Welzel – „Schatzhäuser der Geschichte“.  Sie sind neben zeitgenössischen Quellen, neben Archiven und neben persönlichen, mündlich weitergegebenen Erinnerungen wichtige Speichermedien. Diese „Geschichten-Schatzhäuser“ sind doppelt codiert: einerseits als Ort und Erbe des christlichen Glaubens und andererseits als kulturelles Erbe aller Menschen und eines säkularen, menschenrechtlich fundierten Begriffs kultureller Teilhabe.

Prof. Welzel ergänzte zwei weitere Geschichten: Zum einen von Benno Elkan (1877 – 1960) / der in Dortmund geborenen wurde / der als jüdischer Bildhauer Grabplastiken für christliche Familien schuf / dessen Werke ab 1933 aus dem öffentlichen Raum entfernt wurden / der von den Nationalsozialisten 1935 Berufsverbot erhielt / der nach London emigrierte und dort die sein Hauptwerk schuf: die „Knesset-Menora“ / der damit ein eindrückliches Denkmal schuf, das 1956 vom britischen und ältesten Parlament der Welt an das israelische und jüngste Parlament geschenkt wurde / der 1905 den dornengekrönter Christuskopf schuf, der heute in der Marienkirche hängt.

Zum anderen von Pfarrer Hans Joachim Iwand (1899 – 1960) / dem evangelischen Theologen / dem Mitbegründer der Bekennenden Kirche in Ostpreußen / dem die Nationalsozialisten die Lehrbefugnis entzogen / der als Flüchtling nach Dortmund kam / der als Mitglied der Bekennenden Kirche verhaftet wurde / der von der Mariengemeinde allen Widerständen zum Trotz als Pfarrer angestellt wurde / der aus seiner Erfahrung von Verfolgung, Flucht und Neubeheimatung an St. Marien predigte / dessen Tochter Veronika auf der gleichen Schule war wie Prof. Welzels Mutter.

Solche Geschichten halte diese Marienkirche vor. Solche Geschichten können davon erzählen, wie ein „Wir“ aussehen kann.  Ein „Wir“ auch im Sinne der kulturellen Teilhabe. Und eine solche kulturelle Teilhabe Aller ist auch eine Ressource für den Frieden.

In der vor fast 20 Jahren in Faro/ Portugal formulierten – und auch von Deutschland unterzeichneten, aber bislang nicht ratifizierten – Erklärung des Europarats, der sog. ‘Faro-Konvention‘, wird das Recht auf kulturelles Erbe und kulturelle Teilhabe festgeschrieben. Dies bedeutet zugleich die Unverfügbarkeit eines solchen kulturellen Erbes für gesellschaftliche Gruppen und auch für die Nöte der eigenen Gegenwart.

Unter diesem Aspekt seien die vorsätzlichen und gezielten Bombardierungen von kulturellen Landmarken wie Museen und Kirchen in der Ukraine durch die russische Armee völkerrechtlich ein Teilaspekt von Genozid, denn sie gelten der Zerstörung der Identität einer Region.

Auch die St. Marienkirche ist eine Landmarke, die dem Abriss im 19. Jahrhunderts und den schweren Zerstörungen Dortmunds im Zweiten Weltkriegs getrotzt hat. Und heute? Wie schaffen wir Identität der Menschen mit der Geschichte ihrer Stadt und Möglichkeit der kulturellen Teilhabe? Hierzu schlägt Prof. Welzel eine Zukunftswerkstatt in einer partiell von Kirchenbänken freigeräumten Marienkirche vor, zu der Menschen aus unterschiedlichen Stadtteilen mit ihrer Vielfalt in Herkunft und Religion eingeladen werden. Eine Zukunftswerkstatt, um dieses Erbe anzunehmen und weiter zu entwickeln. „Eine Zukunft als Erbe aller“ – so ihre Schlussworte.

Orgelklang und Orgel-Gedicht

Unsere Schwalbennest-Orgel durfte auch beim 20. Stiftungsjahrestag unter den Händen des Kantors Manfred Grob wieder als Königin der Instrumente brillieren. Seine Musik-Auswahl reichte vom 19. Jahrhundert bis zum zeitgenössischen Orgelwerk – von „Lux Aeterna“ (Ewiges Licht) bis zu einer mit pulsierenden und irisierenden Klängen den Kirchenraum füllenden Toccata.

Einen Höhepunkt bildete 2023 die Uraufführung eines von Herrn Grob bei dem amerikanischen Komponisten John Michael Paulson (geb. 1968) in Auftrag gegebene Orgelwerk „A Psalm of Thanksgiving“ zu Bertholt Brechts 1916 verfasstem Gedicht „Die Orgel“. Eine kongeniale Tonschöpfung zu einem Text, der von Klangzauber und Kampfgetöse erzählt, in dem sich ein endlos blauem Himmel in Sturm und Hass verdunkelt – bis ewige Liebe und ein grandios-erhabenes Orgelfinale erlöst.


Bertholt Brecht – Die Orgel (1916)

Wenn der preisende Orgelton aufschwillt, dunkelt der Raum. Schweben die Decken lautlos empor, werden gläsern die Wände und weisen das dunkle Land: Erde. Meer. Äcker. Wälder. Darüber ein endloser Himmel gespannt. Blau wölbt sich über Erde und Meer der Traum.

Donnernd Gestamp dröhnt unter der Erde auf und füllt ehernen Himmel. Massen von Regimentern fluten über die Äcker zum Kampf. Hoch wächst der Kampf, über Leichen und Brand das wild verworrne Getümmel. Aber über aller Not und über allem Drang geht wie über donnernde Wogen ein schwerer Klang über die Erde: Im ehernen Himmel läuten Erzglocken.

Und grüßend schwillt Sang heller und heller empor im Sturm und weht hochauf und klingt über dem Hass der Orgelton ewiger Liebe und singt Dankgebet.


Rechnen und Raten

Ein trockenes Zahlenwerk kurzweilig vorzutragen, dies gelang Dr. Thorsten Ziebach auch dieses Jahr wieder. Mit einem einleitenden Zahlenrätsel ähnlich der Quizshow „Wer wird Millionär“ präsentierte er auf dem Stiftungsjahrestag 2023 den Rechenschaftsbericht für 2022: Es gingen 120 Spenden mit einer Gesamtsumme von 27.785 € ein, damit war das Spendenaufkommen leicht unterdurchschnittlich, es gab aber auch – wie in manch früheren Jahren – in 2022 weder große Anlassspenden noch Vermächtnisse. Die Gesamtrentabilität lagt in 2022 weiterhin bei unter 1%, so dass sich die Zinserträge in 2022 mit rund 1.480 € (Vorjahr: rund 1.370 €) auf einem stabil niedrigen Niveau eingependelt haben. Für die in 2022 erfolgte Sanierung der Schreiter-Kirchenverglasung lag im Rechenschafts-Zeitraum noch keine Rechnung vor, so dass an stiftungsgemäßen Ausgaben nur rund 1.100 € für die Förderung der Kirchenmusik im Rahmen der Orgelkonzertreihe „Musik aus dem Schwalbennest“ zu verzeichnen waren.

Der Gesamtbetrag, den die Stiftung dank Spenden und Zinserträgen von 2003 bis Ende 2022 in die Förderung von Kulturgut und Kirchenmusik investieren konnte, beläuft sich auf rund  697.750 €. Dr. Ziebach löste final das Zahlenrätsel auf und dankte – so wie Frau Fischer als stellvertretende Vorsitzende in ihren anschließenden Dankesworten – im Namen der Stiftung allen Gästen und Mitwirkenden sehr herzlich.

Mit einem kleinen Empfang, vielen anregenden und netten Gesprächen endete ein sehr schöner, in manchen Momenten ernster, aber ebenso inspirierender Abend zur Feier des 20. Stiftungsjahrestages.

Silvia Schmidt-Bauer
Schriftführerin Stiftung Kulturgut und Kirchenmusik

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